„Turn, Turn, Turn“ – interdisziplinäres Seminar in Sion
Der Linguistic Turn und weitere kulturwissenschaftliche Wenden in ihrer Bedeutung für die Bibelinterpretation
Welche Chancen haben Geisteswissenschaften in einer Universitätslandschaft, in der die Naturwissenschaften eine immer größere Rolle spielen? Was sind Kulturwissenschaften? Und welche Bedeutung haben die zahlreich ausgerufenen Turns wie der Cultural Turn, der Pragmatical Turn oder auch der Iconic Turn für den Umgang mit Texten – exemplarisch dem Bibeltext?
Diesen Fragestellungen widmete sich ein interdisziplinäres Projektseminar zwischen Sprachwissenschaft und Evangelischer Theologie, welches im Rahmen des Studiengangs »Ethik der Textkulturen« im September 09 in Sion / Schweiz stattgefunden hat. Es ist die dritte Veranstaltung dieser Art, in der Studierende und Dozierende unterschiedlicher Fächer Diskurse ihrer Disziplinen miteinander verknüpfen und diskutieren. Neben der Evangelischen Theologie und den Sprachwissenschaften waren diesmal auch Studierende der Theater- und Medienwissenschaften sowie der Geschichtswissenschaften vertreten, was zu einer äußerst produktiven und lebendigen Auseinandersetzung um die Reichweite einzelner Turns sowie das Verständnis der Bibel führte.
Der Linguistic Turn betont und reflektiert die grundsätzliche Bedeutung von Sprache – und dies über die sprachwissenschaftliche oder philosophische Ursprungsdisziplin hinaus ebenso in den weiteren Geisteswissenschaften. Für die Bibelinterpretation erwächst daraus vor allem eine wertvolle Verfeinerung wissenschaftlicher Methoden für die Bibeltextauslegung. Der Pragmatic Turn verbindet Sprechen/Schreiben mit Handeln und bedenkt die Voraussetzungen, Intentionen sowie Effekte von Kommunikationsabläufen. Für die Interpretation der Bibel ergeben sich daraus zahlreiche neue Einsichten in Blick auf die Wirkungen biblischer Texte. Der Translational Turn thematisiert die Möglichkeiten und Grenzen des Übersetzen und weist dabei vor allem auf die Umformungsdynamik im Übersetzungsprozess hin. Dies wirft ein neues Licht auf das Verständnis und die Wertung zahlreicher neuerer Bibelübersetzungen. Der Iconic Turn zeigt die Aufwertung des Bildlichen an, ein Prozess, der in der Moderne vor allem durch die Fotografie und den Film eingeleitet wurde und in den Neuen Medien nachhaltig verankert ist. Mit der Sensibilisierung für Bildlichkeit lassen sich biblische Reflexionen zum Bild (Bilderverbot), Dimensionen biblischer Bildersprache (Metaphern) sowie die zahlreichen Verbildlichungen des biblischen Stoffinventars in der Kunst neu nachzeichnen und deuten. Und schließlich lenkt der Ethical Turn die Aufmerksamkeit auf gefühlte Defizite sowie verstärkte Betonungen ethischer Reflexionen – ein Aspekt, der gerade im Blick auf einen eminent ethischen Text wie die Bibel von besonderem Interesse ist.
Neben zahlreichen Detailerkenntnissen arbeiteten wir insbesondere heraus, dass die Turns keinesfalls als Zäsuren im Sinne kopernikanischer Wenden missverstanden werden dürfen. Dann erschienen sie inflationär. Vielmehr sind es »Hinwendungen«, neue Perspektiven auf Themen, Texte und Methoden. Zugleich können die Turns vielversprechend als Plattformen verstanden werden, auf denen Forschende unterschiedlicher Disziplinen Gelegenheit erhalten, sich zu treffen und auszutauschen, um weiterführende Impulse für ihre eigenen Fachgebiete zu erhalten. Die Turns sind somit auch eine Antwortmöglichkeit auf die Krise der Geisteswissenschaften. Nicht zuletzt zeigen die Turns in ihrer Vielgestaltigkeit und ihren hegemonialen Ansprüchen die Notwendigkeit, textethisch die Effekte von Methoden und Theorien im Umgang mit Texten ständig neu und vor allem interdisziplinär zu diskutieren – eine Aufgabe, die im Zentrum des Studiengangs Ethik der Textkulturen steht.
Volker Eisenlauer M.A./Dr. Stefan Scholz
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