Profil

Konzeption des Studiengangs Ethik der Textkulturen der Universitäten Augsburg und Erlangen-Nürnberg

Zusammenfassung:

Ethische Fragestellungen gehören mittlerweile zu den fast hochkonjunkturellen Erscheinungen eines sich dramatisch verändernden Lebens, mit der Folge, daß das Stichwort „Ethik“ nicht selten überstrapaziert wurde und sich daher in gefälliger Austauschbarkeit zu erschöpfen droht. Der Anspruch ethischer Fragestellung, der bislang überwiegend im Bereich der Lebenswissenschaften oder auch Medien verankert worden ist, wird gerade von Seiten geistes- und kulturwissenschaftlicher Fächer, die für die Werteorientierung reklamiert werden, noch kaum angemessen wahrgenommen.

Der Elitestudiengang „Ethik der Textkulturen“ möchte hier mit einer neuen Perspektive ansetzen: Der Studiengang soll die ethische Orientierungsleistung jener Kulturwissenschaften reflektieren (und für hochqualifizierte Verantwortungsträger verfügbar machen), die in besonderem Maße mit der Auslegung und Vermittlung von Texten befaßt sind, nämlich Literatur- und Sprachwissenschaften, Theologie und Philosophie, jeweils unter einer kulturgeschichtlichen Perspektivierung. Fokussiert wird dabei auf eine Voraussetzung ethischen Denkens und Handelns, die aufgrund ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit sich der Wahrnehmung bevorzugt entzieht, nämlich die sprachliche Verfassung des Wertens.

Hier liegen gewichtige, im universitären Fächerkanon bislang kaum verankerte Profilierungsmöglichkeiten, die das Potential theologisch-philosophischer Ethiken für eine Neuvermessung nutzen: In skeptischer Offenheit soll dabei bewußt der Text-Begriff präferiert werden, der in der kulturwissenschaftlichen Euphorie zwischenzeitlich unterzugehen drohte, aber etwa auch in der neueren Linguistik wieder verstärkt eine Rolle spielt; medien- oder informationsethische Belange erscheinen daher in einem Überbau integrationsfähig.

Daß ethische Urteile nur in der Gestalt von Texten zugänglich sind (deren Genese, Struktur, Bedeutung und kommunikative Funktion wie die jedes anderen Textes rekonstruiert und verstanden werden müssen), daß jede wert-orientierte ethische Reflexion sprachlich verfaßt ist und daß der Umgang mit Texten, das Textverstehen, eine elementare ethische Dimension enthält, gehört zu den Grundvoraussetzungen dieses Studienganges. Geht es dabei doch nicht darum, den Text einer ihm äußerlichen normierenden Kraft zu unterstellen, sondern ihn – durchaus im Wandel seiner kulturgeschichtlichen Lesarten und Rhetorik – insofern ethisch zu begreifen, als er eine (irreduzible) Andersartigkeit behält.

Dabei sind sowohl linguistische wie philosophische Konzeptionen gefragt, die in der Verbindung mit ästhetischen oder theologischen Lektürestrategien sichtbar zu machen sind. Es geht um eine Ethik des (textförmigen) Verstehens von (textförmiger oder nicht-textförmiger) Wirklichkeit. Der Terminus ‚Textkulturen’ verweist dabei auf die Dynamik und die Historizität von Kulturproduktivität.

Wesentliche Intentionen:

Die Konzeption eines Elitestudiengangs „Ethik der Textkulturen“ zielt vorwiegend darauf, den Anspruch ethischer Wertesetzung und offener (demokratischer) Wertediskussion auch im Bereich derjenigen Wissenschaften sichtbar zu machen, die im weiteren Sinne mit der Schlüsselqualifikation der Sprache und Verständigung als Orten gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung zu tun haben. Ethik wird daher nicht im Sinne einer philosophischen Teildisziplin verstanden, sondern, mit Blick auf ihre philosophie- wie kulturgeschichtliche Bedeutung, als unentbehrlicher Bestandteil einer Ausbildung kritischer Kompetenz, die bei der zunehmenden Relevanz natur- und lebenswissenschaftlicher sowie ökonomischer und informationstheoretischer Provenienz der Gefahr einer Werterelativierung zu begegnen versucht.

Die sprachliche und kulturelle Konstitution von Werten soll linguistisch, theologisch, philosophisch-kulturgeschichtlich und literaturwissenschaftlich erforscht, systematisiert und – interkulturell und interdisziplinär – verglichen werden.

Im Zentrum des Studiengangs steht daher, dank eines durch Integration unterschiedlicher Disziplinen erreichten Mehrwertes, zum einen ein Ethikbegriff, der nicht als funktionalisierte Teildisziplin, sondern als durch Sprache und Texte vermittelte Reflexionsinstanz gesamtgesellschaftlicher Verantwortung verstanden wird – die sprachliche Verfassung jeglicher Wertung kommt gerade im theologischen Wort wie auch im philosophischen oder literarischen Text vordringlich zum Vorschein, wobei pragmatische Gesichtspunkte und die jeweilige Verbindlichkeit von Mündlichkeit und Schriftlichkeit überdies eine Rolle spielen. Im ideologiekritischen Umgang mit Texten und Kulturen werden wert-orientierte Kompetenzen gefördert, die für eine mutige Gestaltung der gesellschaftlichen Zukunft nicht weniger wichtig sind als die Sicherung natürlicher Ressourcen.

Ethik wird somit als offene, dialogische Aufgabe der Selbstbefragung und Persönlichkeitsbildung verstanden, wobei gerade die Kategorie des Anderen für die Selbstfindung entscheidend ist: Ethik wäre daher nicht als fixierte Moral zu verstehen, sondern als (permanentes) Unterwegssein zu einer Kritik der Wirklichkeit.

Zum andern geht es in erheblichem Maß um eine transparente Reflexion wissenschaftlichen Arbeitens, auf das selbst die Frage ethischer Verantwortung zurückbezogen bleiben muß – ein Vorgang, der derzeit gerade in den Lebenswissenschaften eine auch gesellschaftspolitisch bedeutende Rolle spielt, allerdings ohne daß die sprachlichhermeneutische Potenz der Prozesse von Wertsetzung genügend reflektiert wird.

Im Bereich der zunehmend kulturwissenschaftlich geprägten Literaturtheorie spielt in den letzten Jahren die Frage nach der Ethik eine gewichtige Rolle, die u.a. an der Frage des Textverstehens als eines Fremdverstehens (hier in Auseinandersetzung mit Levinas Identität durch den Anderen in Emmanuel Levinas: Die Spur des Anderen), an der Möglichkeit einer narrativen Ethik (im Sinne Paul Ricoeurs Identität durch Erzählen in Paul Ricoeur: Narrative Identity), an der Verantwortung für den anderen (von Judith Butler, 2003, auf die Form der Autobiographie bezogen in Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt), aber auch an der Kanondebatte (z,B. in Simone Winko und Renate von Heydebrand: Einführung in die Wertung von Literatur) verankert werden kann.

Fragen gesellschaftlicher, ethischer Legitimation von Wissen, d.h. dann auch von Macht, spielen im Bereich der Literatur- und Kulturgeschichte eine zentrale Rolle – erinnert sei nur an den Faust-Stoff, die Exildichtungen, die literarischen Texte über die Rolle der Naturwissenschaft. Pragmatische Brücken bestehen zur kulturgeschichtlichen und mediengeschichtlichen Wirkungsstrategie (unter Einschluß der Rhetorik) sowie zur Sprachwissenschaft.

Insofern jegliche gesellschaftliche Bewußtseinsbildung nun durch Sprache erfolgt, ergeben sich aus linguistischer Perspektive zahlreiche zentrale Fragen, etwa die nach der soziokulturellen Ökologie des sprachlichen Texts, nach der sprachlichen Reflexion ideologiekritischer und emotiv-evaluativer Einstellungen, aber auch nach der wechselseitigen Bedingtheit der neuen multi-medialen und multi-linearen Kommunikationsformen und der durch sie vermittelten Semiosen. Gerade unter den Bedingungen der elektronisch gestützten Interaktion stellt sich die Frage nach der ethischen Perspektivierung von Textualität und ethischen Legitimierung von Wissen neu.

Zudem müssen Aspekte der Text- und Wortsemantik (z.B. das Wortbildungspotential ethischer Grundbegriffe) wie auch sprachwissenschaftliche Analysen ‚ethischen’ und ‚nicht-ethischen Sprechens’ – jenseits subjektiver Texterfahrung – insbesondere auch im öffentlichen Diskurs (z.B. Tagespresse) hinreichend berücksichtigt werden.

Aus Sicht der Philosophie müssen in diesem Studiengang die historischen und systematischen Grundlagen der Ethik vermittelt werden, d.h. die verschiedenen Typen von Moralen und von ethischen Reflexionen, wie sie sich in der Philosophie seit der Antike entwickelt haben und auch die gegenwärtigen Debatten, sei es im Grundsätzlichen, sei es im Zusammenhang mit Problemen der Angewandten Ethik bestimmen. Dazu ist es unerläßlich, Klassische Texte der Moralphilosophie (wie etwa Aristoteles: Nikomachische Ethik, Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten oder John Stuart Mill: Utilitarismus) zu studieren – Musterbeispiele für die Textgebundenheit von Wertediskussion und Wertevermittlung.

Ferner verlangt der Studiengang eine philosophische Ausweitung der Perspektive etwa auf die Begriffe der Person, des Anderen, der personalen Identität und Selbstachtung sowie der Fremdachtung und der Toleranz. Im Hinblick auf das Konzept der Textualität sind von philosophischer Seite Beiträge zu leisten, die die Grundlagen der philosophischen Hermeneutik (Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik) und den quasi-moralischen Status von Texten betreffen, den man als „Würde des Textes“ bezeichnen könnte.

Andererseits gilt es, einer verengten Perspektive allein auf den Text dadurch vorzubeugen, daß allgemeinere sprachphilosophische Ansätze eingebracht und auf ihre Bedeutung für die Textualität hin untersucht werden – wie z.B. Wittgensteins Konzept des Sprachspiels als Konstituens der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke oder Donald Davidsons Gedankenexperiment der radikalen Interpretation und seine Bedeutung für eine Theorie des Fremdverstehens.

Gerade die evangelische Theologie hat mit ihrer Tradition der Wort-Verpflichtung das für die Literaturwissenschaft und ihr theoretisches Fundament zentrale Argument hermeneutischer Kritisierbarkeit überhaupt erst entwickelt, weshalb die hier vorgeschlagene Zusammenführung der textexegetischen Disziplinen auch ihre wissenschaftsgeschichtliche Rechtfertigung hat (dazu aktuell: H.U. Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, 2004).

Im Bereich der Theologie hat besonders die Diskussion bibelkritischer Texthermeneutik in ihrer ethischen Auswirkung zu einer vertieften Auseinandersetzung mit Positionen der Rezeptionsästhetik geführt (vgl. dazu Klaas Huizing, Homo Legens; Jörg Lauster: Prinzip und Methode; Oda Wischmeyer: Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch.).

Kulturwissenschaftliche Entwürfe, etwa einer Ökologie der Literaturwissenschaft (Hubert Zapf: Literatur als kulturelle Ökologie), bringen in diesen Kreis eine höchst eigenständige wie zukunftsträchtige Neuperspektivierung ein. Dabei wird die Funktion der Literatur als symbolische Ausgleichsinstanz für die Defizite und Krisensymptome einer einseitig technisch-ökonomisch verstandenen Modernisierung beleuchtet, aber auch ihr regeneratives Potential als Ort der kreativen Selbsterneuerung der Sprache, des Denkens und der Wertsysteme der Gesamtkultur.

Die Evolutionsfähigkeit der Kultur wird gerade durch die literarische Infragestellung von erstarrten Diskursmächten gewährleistet: Anthropozentrische Ethik wird auf die außermenschliche Natur erweitert, binnen- und interkulturelle Ausdifferenzierungen führen im Bereich von Ökofeminismus und „environmental justice“ zu neuen ethischen Ansätzen, die in der anglo-amerikanischen Literatur- und Kulturwissenschaft bereits bevorzugt behandelt werden.

Ethik fungiert hier weder als philosophische Begründung von Moral noch auch als ästhetische oder theologische Vermittlung von Werten auf einer Inhaltsebene: Der Text theologischer, philosophischer, literarischer oder auch alltagssprachlicher Provenienz soll gerade nicht – das wäre der konventionelle Blick – als Medium moralischer Inhalte wie Mitleid, Toleranz etc. thematisiert werden, denn das macht ihn zu einem austauschbaren Mantel, der auch von der Moraltheologie oder Philosophie beansprucht werden könnte. Vielmehr geht es – in einer Bündelung textkritischer Methodik und kulturwissenschaftlicher Ansätze – um die ethische Perspektivierung von Textualität, die ihre Auswirkungen bis in den Bereich der Edition von Texten oder die juristische Begründung von Urteilen erstrecken kann.

Die mit hoher gesellschaftspolitischer Verantwortung verknüpfte Analyse solcher Zusammenhänge soll dabei auch in denjenigen Bereichen ergebnisreich untersucht werden, in denen das Wort der Mitteilung sachlicher Informationen dient, wie etwa dem Gegenstandsbereich der Sprachwissenschaft, sodann dort, wo es in seinem Eigenwert besondere Aufmerksamkeit findet. Dies ist der Bereich des literarischen Textes und seiner Verständnisprovokationen einerseits, der Bereich der „heiligen Texte“ der Religion und ihrer Auslegungsbedürftigkeit andererseits.

Die mit diesen Textgattungen beschäftigten Wissenschaften haben in ihrer Geschichte einen großen Schatz von ‚Theorieerfahrungen‘ im Umgang mit Texten erworben, zu dem seit etwa dem Ende des 18. Jahrhunderts auch Ästhetik und Hermeneutik als Formen der Metareflexion gehören. Die Aufgabe, das in diesen ‚Textwissenschaften‘ erarbeitete ethische Orientierungspotenzial für Studierende zugänglich zu machen und über sie in den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs einzubringen, ist bisher nur unzureichend wahrgenommen und zudem institutionell noch kaum verankert. Der Elitestudiengang betritt daher Neuland, indem er eine empfindliche Lücke schließt.

Literaturverzeichnis:

  • Aristoteles: Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes herausgegeben von Günther Bien. Hamburg: Meiner, 1985.
  • Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno Vorlesungen 2002. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003.
  • Davidson, Donald: Inquiries into Truth and Interpretation. Oxford: Oxford University Press, 1984.
  • Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr Siebeck, 1990.
  • Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004.
  • Huizing, Klaas: Homo Legens. Vom Ursprung der Theologie im Lesen. Berlin: de Gruyter, 1996.
  • Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Werksausgabe Band VII. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1968.
  • Lauster, Jörg: Prinzip und Methode. Tübingen: Mohr Siebeck , 2004.
  • Levinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg: Alber, 1998.
  • Mill, John Stuart : Utilitarianism / Der Utilitarismus. Englisch/ Deutsch, herausgegeben und übersetzt von Dieter Birnbacher. Stuttgart: Reclam, 1985.
  • Ricoeur, Paul: Narrative Identitiy. In: Philosophy Today 35, S. 73-81
  • Winko, Simone und Renate von Heydebrand: Einführung in die Wertung von Literatur. Stuttgart: UTB, 1996.
  • Wischmeyer, Oda: Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch. Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 8. Tübingen/Basel: Francke, 2004.
  • Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie. Tübingen: Niemeyer, 2002.