Lektüre-Klausur: Gilles Deleuze / Félix Guattari: Anti-Ödipus

Vom 8. bis zum 12. August fanden sich einmal mehr Studierende und Alumna von EdT zusammen, um in der Lektüre-Klausur gemeinsam ein gewichtiges Werk der Geistesgeschichte zu lesen und zu diskutieren. Der folgende Bericht wurde von Stefan Steiner verfasst:

„Es funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Es atmet, wärmt, ißt. Es scheißt, es fickt. Das Es… Überall sind es Maschinen im wahren Sinne des Wortes: Maschinen mit ihren Kupplungen und Schaltungen.“ (GD/FG: Anti-Ödipus, S.7) – Bereits mit dem ersten Satz ihres ‚Anti-Ödipus‘ dürfte bereits der Buchdeckel des Werkes von Gilles Deleuze und Félix Guattari von vielen Akademikerinnen und Akademikern bereits wieder zugefallen sein. Tastet sie oder er sich nach anfänglichem Schockmoment doch noch einen Absatz weiter, begegnet ihm spätestens dort ein weiteres Mal die Diskurs-Schranke des wissenschaftlichen Betriebs. In Anspielung auf den Fall Schreber aus dem Repertoire Freuds legen die beiden französischen Intellektuellen eine Ungeheuerlichkeit nahe – auch psychisch Kranke betreiben Theorie: „Himmelsarsch. Und seid ohne Sorge, es funktioniert; Präsident Schreber spürt etwas, produziert etwas, und vermag darüber hinaus dessen Theorie zu entwickeln.“ (Ebd. S.7) Fast unglaublich scheint es anhand solcher Sätze, dass das Werk der beiden kongenialen Denker seinerzeit zu einem geistesgeschichtlichen Meilenstein erhoben, gar zum ersten ‚ethischen Buch seit langem‘, ja das 21. Jahrhundert zum ‚deleuzianisches‘ gekürt wurde (Foucault). Angetrieben vom Vermittlungswille jener beider Eindrücke stellten sich 9 Studierende und Alumna von Ethik der Textkulturen der Herausforderung, die bisweilen undurchdringlichen und schwer zugänglichen Passagen des Buches zu erarbeiten.

Eine Tradition von Studierenden für Studierende

Bereits seit 2017 organisieren Erlanger Studierende des Masterstudiengangs ‚Ethik der Textkulturen‘ in den Semesterferien ein fünftägiges Treffen in der Abgeschiedenheit der fränkischen Schweiz, um bedeutsame (philosophische) Abhandlungen der Geistesgeschichte in 10-12 stündigen close reading sessions zu studieren und zu diskutieren. All dies ohne ECTS, Dozierende, Prüfung. Den Anfang dieser Veranstaltungsreihe machte die Beschäftigung mit G.W.F. Hegels Phänomenologie des Geistes, gefolgt von Martin Heideggers Sein und Zeit, Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft sowie Theodor W. Adornos Negative Dialektik. Nach Mehrheitsbeschluss entschied sich die Gruppe dieses Mal – auch bestehend aus Alumna des Studienganges – für den Anti-Ödipus aus dem Jahr 1972.

„Sag, daß es Ödipus ist, oder ich knall dir eine!“ (Ebd. S.58)

Gilles Deleuze und Félix Guattaris Text richtet sich zunächst und unter anderem gegen den zeitgenössischen psychoanalytischen Diskurs. Der Vorwurf lautet, dass mit dem Ödipus-Komplex eine Interpretationsfolie der Psyche angelegt wird, die ebenjene notwendigerweise auf einen theatralisierten Familienkonflikt reduziert, diesen ahistorisch als anthropologische Konstante totalisiert, die Struktur des Unbewussten auf Sprachlichkeit verpflichtet und – last but not least – eine Komplizenschaft mit dem Kapitalismus eingeht. Man mag die Kritik des Philosophen Deleuze und des Psychiaters Guattari stellenweise für überzogen wahrnehmen, doch ihre Produktivität lässt sich nicht leugnen.

Ein Buch wie eine Quecke

Der Kritik zugrunde liegt eine Umdeutung – gar eine phänomenologische Beschreibung – der Welt – als maschinistisch-vitalistische, deren Grundoperation die (Wunsch-)Produktion und damit ganz anti-hegelianisch Affirmation sei. Alles ist mit allem reziprok verbunden – wie eine große Fabrik, deren Maschinen durch Kopplungen, Energie(Kapital-)ströme und (An- und Ab-)Schaltungen einen Gesellschaftskörper deterritorialisieren und gleichsam reterritorialisieren. Dort entstehen in Anziehungs- und Abstoßungsbewegungen natürlich keine Kontinuitäten mehr, jedoch eine Produktion offener Serien an Übergängen und Intensitäten, welche einem Cogito vorgelagert sind. ‚Ich fühle‘, dass ich denke. Alles andere wäre totalisierend. Subjekte im klassischen Sinne existieren daher nicht, sondern sind stets partiell und im Werden begriffen. Gerade ein solches Verständnis aber bejahen die Denker: Molekulare Elemente ziehen D&G molaren Einheiten vor. Und dies auch philosophisch gesprochen: Das Mannigfaltige als nebeneinanderstehende Heterogenität steht dem traditionellen im Ganzen und Teilen Denken gewollt ruinös gegenüber. Die Stoßrichtung des Buches wird so klar: Eine anti-autoritäre Ontologie. Gegen die Psychoanalyse, den Kapitalismus, jede Form des Faschismus. In ihrem darauffolgenden Werk Tausend Plateaus entwickeln die beiden Denker – fast schon systematisch – die Denkfigur des Rhizoms, welche im Anti-Ödipus in Form der Schizo-Analyse ihren Vorläufer findet. Bei weitem sind in diesem Absatz nicht die inhaltliche Fülle und die Zugangsmöglichkeiten abgedeckt. Doch gerade das scheint auch im Sinne der Autoren, deren assoziatives, von literarischen bis molekularbiologischen Diskursen durchtränktes und in ihrem Sinne schizoides Schreiben so manche Synapse nicht nur aufgrund der sommerlichen Temperaturen heiß laufen lässt.

Auf Wiedersehen in Pottenstein

In den Tagen vom 8. bis zu 12. August 2020 verbanden die Studierenden und Alumna des Studienganges intensive Lektüre und Diskussion – wie auch in den letzten Jahren – mit dem gemeinschaftlichen Aufenthalt im abgeschiedenen Pottensteiner-Ferienhaus und dessen Vorzüge: eine große Terrasse und Möglichkeiten für Spaziergänge sowie für gemeinsames Kochen und Speisen. In dieser Symbiose aus ‚Klausur‘ und Gemeinschaft liegt die optimale Voraussetzung noch so große intellektuelle Herausforderungen zu bewältigen, schwere Texte zu durchdringen und mit irreversiblem Gewinn zurück in den Universitätsalltag zu gehen.

Text: Stefan Steiner; Bilder: Edgar Hirschmann