Siegfried Kracauer – Freund, Autor und Kritiker
Die Person Siegfried Kracauer
von Stephanie Forristall
Das Leben Siegfried Kracauers war geprägt von der politischen Lage des zweiten Weltkrieges und seiner Flucht vor Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Eine Flucht, die ihn über mehrere Etappen schließlich in die Vereinigten Staaten führte. Geboren in Frankfurt am Main im Jahre1889, blieben ihm, als jüdischem Intellektuellen, kaum andere Optionen. Ihm gelang mit seiner Ehefrau Elisabeth Kracauer die Emigration zunächst nach Frankreich und anschließend über Lissabon in die Vereinigten Staaten. Mit dem jungen Theodor W. Adorno, den er 1921 in Frankfurt a. M. kennen lernte, verband ihn eine zunächst launische Freundschaft, die jedoch bis zu Kracauers Lebensende Bestand haben sollte. Von ihrem Leben und ihrer Freundschaft zwischen Krieg, Emigration, Adornos Rückkehr nach Deutschland und Kracauers Leben in den USA zeugt jener Briefwechsel, der im Original im Deutschen Literatur-Archiv in Marbach aufbewahrt wird und einzusehen ist. 2008 erschienen die Briefe zwischen Kracauer und Adorno in dem siebten Band der Reihe „Briefe und Briefwechsel“. Die meisten Briefe aus den Nachlässen Kracauers und Adornos wurden auf Microfiche übertragen und können im Marbacher Archiv am Monitor vergrößert betrachtet werden.
Doch die Autorennachlässe im DLA enthalten im Fall von Kracauer neben Briefen an und von ihm – wobei Briefe prinzipiell meist seltener erhalten sind, wenn sie nicht an einen anderen namhaften Autor gerichtet sind, wie etwa an Theodor Adorno – auch sein Karteikastensystem, Schreibpläne, Manuskripte, Fahnen sowie seine private Bibliothek. In den Ausstellungen im Literaturmuseum der Moderne lässt sich Kracauers Schreibplan zu From Caligari to Hitler (1947) bestaunen, der sich als Sichtschutz auf dem Schreibtisch aufstellen und auch falten lässt. Es ist ein Zeugnis von Kracauers systematischer und strukturierter Arbeitsweise.
Siegfried Kracauers Nachlass birgt verschiedene Perspektiven. In den Briefen an Adorno erkennen wir ihn als Freund und Intellektuellen. In den Randnotizen in den Schriften und Büchern seiner privaten Bibliothek erkennt man den Kritiker und systematischen Denker. Auch Briefe über ihn, etwa posthum die Briefe zwischen Lili Kracauer und Theodor Adorno gewähren weitere Einblicke in das Wesen Kracauers und Perspektiven auf die ‚Beziehungskisten‘ großer Autoren.Aber nicht nur in seiner Rolle als Schriftsteller, als Autor ist Siegfried Kracauer von großer Bedeutung; er war auch ein vertrauter Freund und Kritiker.
Kracauers Gedankengebäude
Beim Vertiefen in Kracauers Nachlass wird schnell klar, dass der ehemalige Architekturstudent, Redakteur, Soziologe und Filmtheoriker ein persönliches, strukturiertes Archiv besaß, auf das er schnell zugreifen konnte. In zahlreichen Karteikästen ordnete Kracauer Zettelchen jeder Papierdicke und Machart, die er mit Verweisen, Zusammenfassungen und Querverweisen beschrieb. Viele Bücher seiner persönlichen Bibliothek versah er beim Lesen mit Notizen und in einige schrieb er eigene Inhaltsverzeichnisse. Er erschuf sich „Wissensgebäude“, an dem jede Information seinen festen Platz hatte; dies diente der leichteren Zugänglichkeit seiner eigenen Gedanken zur verschiedenen Theorien, Werken und Autoren; machte die Informationen „begehbar“ und das Wiederauffinden von Gedankengängen nachvollziehbar durch das logische Gerüste des Ordnungssystems. So verlieh er seinen Gedankengängen eine physische Präsenz. Dieses System, dieses (Zu)Haus(e) an verbauten Wissen und Gedanken hatte auch den einen oder anderen Schwachpunkt: Kracauer beschriftete ein Fach in einem seiner Karteikästen schlicht mit „Don’t know where“ (Dt. „Ich weiß nicht wo(hin damit)“).
Die Lesespuren und handschriftlichen Dokumente bieten gleichzeitig einen Zugang zu Siegfried Kracauers Gedankenwelt, dem Architekt hinter diesen „Wissensgebäuden“. Die Art und Weise, wie er den chaotischen Raum von Erinnerungen, Gelesenem und Wissen ordnete, lässt Rückschlüsse darauf zu, wie seine eigene Gedankenarbeit ausgefallen sein könnte. Für sein From Hitler to Caligari erstellte er sich einen detaillierten Schreibplan auf mehreren Kartonagen, die er auf seinem Arbeitsplatz aufstellte, den er während des Schreibens seines Buches vor Augen hatte. Einige der Bücher, mit denen Kracauer wissenschaftlich arbeitete, versah der Filmtheoretiker mit eigenen Inhaltsverzeichnissen und schrieb oft Querverweise und Wertungen an den Rand der Seiten.
Kracauer als Kritiker und Freund
Bei seinen Rezensionen und Rezeption von Literatur zeugen nicht nur seine Notizen und Inhaltsverzeichnisse davon wie systematisch er seine Kritiken erarbeitet, sondern auch Listen, mit zwei Spalten, á good und bad zeigen dies. Kracauers – subjektive – Wertungen stellen die Kriterien seiner Individualethik dar . Bücher und gesammelte Notizen sind Konstanten und strukturierende Elemente im chaotischen Leben des Exilanten. Die Papierqualität der Karteikarten und teilweise selber gebastelte Kärtchen und Ordnungskarten lassen die Entbehrungen der harten Exilzeit in Frankreich erahnen, in der Kracauer – wie oft in seinem Leben – finanziell zu kämpfen hatte und unter dem Druck stand, sich durch Veröffentlichung aus der Notlage zu befreien. Sein Karteikartensystem ordnete und machte Notizen, Gedanken und Theorien leicht und in destillierter Form zugänglich – auf der Flucht war ein Karteikasten vermutlich leichter zu transportieren als eine private Bibliothek. Besondere Bewunderung bringt er gegenüber Adornos scheinbar unerschöpfliche Schaffenskraft und Arbeitsmoral auf, wie er wiederholt, etwa in einem Brief vom 27. August 1955, schreibt: „Wie Du das alles fertig bringst – […] – ist mir ein Raetsel,“ Kracauers eigenen Leistungen waren dabei nicht unerheblich. Er setzte seine wissenschaftliche Karriere trotz Verfolgung nicht nur fort, sondern eignete sich auch die jeweilige Sprache für seine wissenschaftliche Arbeit an. Bereits während Kracauers Zeit in Frankreich war der Autor bestrebt, die Landessprache auch für seine Arbeit und Forschung zu nutzen. Nach der Emigration in die USA wechselte der eigentlich frankophile Kracauer daher ins Englische. Während er Briefe an deutsche Freunde in Deutsch schreibt, kommentiert er – auch deutsche Texte – vornehmlich Englisch und verfasst seine eigenen Texte und Bücher ebenfalls auf Englisch. Theodor W. Adornos Warnung, dass er und Kracauer Entscheidendes nur auf Deutsch schreiben könnten, beantwortet Siegfried Kracauer in seinem Brief vom 5. September 1955, dass dies für literarische Texte zwar zutreffen könnte, aber nicht für „Werke des Gedankens, der Theorie – und ich meine hier eigenste Gedanken, eigenste Theorie. Wie schoen waere es, darueber einmal muendlich mit dir zu diskutieren. Mein Stilideal ist, dass die Sprache in der Sache verschwindet wie der chinesische Maler im Bild, wobei ich mir bewusst bin, dass der Maler und das Bild, der Denker und die Sache eines sind – up to a point.“ (Brief an Adorno, 5. September 1955). Etwa dreieinhalb Jahre später, wird das Thema im Briefwechsel noch einmal aufgegriffen: „Mit dem Deutsch schreiben hast Du recht– up to a point, wie ich dir schon mal schrieb. Ganz stimme ich dem bei was Du ueber Uebersetzungen sagst: eine, die kuerzlich vom ersten Kapitel – ueber Photographie – gemacht wurde, war ein solcher Skandal, dass ich die Autorization verweigerte.“ (Brief an Theodor W. Adorno 15. Februar 1959)
Auf zwei unterschiedlichen Kontinenten, vertieft in die jeweils eigene Arbeit, kamen die Freunde nicht mehr oft dazu, die Werke des anderen genau zu lesen. Die Werke Adornos in Kracauers persönlicher Bibliothek, sind zum größten Teil unkommentiert, bis auf Adornos Widmung an seinen Freund Siegfried Kracauer alias „Friedl“. Das die Bücher offenbar ungelesen blieben, deutet nicht etwa auf einen Zerfall der Freundschaft hin, sondern auf deren Fortbestand wider der räumlichen Umstände. Die Bände mit den persönlichen Widmungen, die in Kracauers Bibliothek zu finden sind, sollten nicht als Bücher, sondern als Objekte, die einen großen emotionalen Wert inne liegt, betrachtet werden. Kracauer fand schlicht nicht die Zeit Adornos Bücher nach Erscheinen ausführlich zu rezensieren und zu rezipieren. „Ich wuenschte ich koennte dir viel ueber Deine Wagner Studie schreiben, die zu besitzen mich so freut, aber ich habe leider, leider nicht die Zeit fuer diese Dinge, die doch am wichtigsten sind. Warum kann man sich so selten sehen? Dann waere vieles viel leichter.“ (Brief an Theodor W. Adorno am 27. September 1953) Auch wenn ein reger Austausch nur selten möglich war, in den Briefen wird deutlich, dass kleinere Texte und Aufsätze sehr wohl, teilweise vor Erscheinen, von Kracauer gegengelesen wurden. Ausführliche Notizen, Lob und Kritik wurden transatlantisch per Post ausgetauscht. Viele von Adornos Gedankengänge resonierten mit Kracauers eigener Denkweise; Er lieh sich einige davon für seine eigene Arbeit. In seinem Brief an Adorno vom 27. August 1955 schreibt Kracauer seine Rückmeldungen zu drei kürzeren Texten des Freundes. „Den Satz in Deinem Proust Vortrag, dass Proust kleinste Elemente des Wirklichen als Kraftfelder aufschliesst, werde ich wahrscheinlich irgendwo in meinem Buch zitieren.“ Dieses Lob hält Kracauer jedoch nicht davon ab, Adorno auf Begriffe, die sich „schief“ anfühlen,hinzuweisen, und ihn für seine mangelnde Genauigkeit „im Kleinen“ zu schelten, oder zu gestehen, dass er mit Adornos (bei Kracauer unvollständig eingetroffenen) Artikel zur musikalischen Warenanalyse „offengestanden“ nichts anfangen kann. Trotz Adornos Protest hält Kracauer standhaft an der Kritik fest. „[S]o glaube ich nicht, dass die baiden [sic] fehlenden Seiten meine Einstellung dazu wesentlich geaendert haetten[.] […] Meine Reaktion zu dem Aufsatz hat im uebrigen wenig mit seinem anachronistischem Ton zu tun, der mir nicht entgangen war.“ (Brief 5. Sept. 1955) Doch obwohl Lili von „grossen Gegensätze des Denkens und der Gedanken“ zwischen den Freunden in einem Brief vom 12. August 1969 an Gretel Adorno schreibt, überschnitten sich die Gedankenwelten der Freunde sehr wohl: „ich habe Dir nie fuer Deinen Aufsatz, „Soziologie und empirische Forschung,“ mit der lieben persönlichen Widmung gedankt.“ schreibt Kracauer am 22. April 1958 an Adorno. „Meine Entschuldigung ist nicht einmal, dass ich ensetzlich ueberarbeitet bin, sondern etwas anderes; ich stimme in allem Prinzipiellen so vollkommen mit Dir ueberein, dass ich den Aufsatz in seinem kritischen Teil fast wie eine eigene Aeusserung betrachtete und ihn als solchen mir sozusagen einverleibte. And that was that.“ (Brief vom 22. April, 1958)
Aus den Briefen ist ersichtlich, wie groß der Ideenaustausch und die Diskussionen zwischen den beiden Autoren waren, die sich bei den Besuchen der Kracauers in Europa und den Zusammentreffen mit den Adornos fortsetzten. Die geistigen Listen über Themen und Diskussionspunkte für ihre Gespräche lassen sich aus den Briefen erahnen, in denen versucht wird, ein Treffen zu koordinieren und einen gemeinsamen Termin zu finden. In den Dokumenten von den Nachlässen in Marbach finden sich auch die Kracauers Korrekturen von Adornos Aufsatz „Aufzeichnungen zu Kafka“. „this is a real find!“ schreibt er über das von Adorno angeführte Zitat von James Fennimore Cooper. Die Aussage, dass ‚Kafka das Recht für Surrealismus für sich in Anspruch nehmen kann‘, quittiert Kracauer mit einem Fragezeichen. Zwei Sätze später, neben den Satz „Er ist die Schrift gewordene Turandot.“ schreibt Kracauer „good. but not relevant.“ Oft schreibt er kurze Kommentare, Referenzen, „good“, „right“ und „very good“ oder einfach nur Fragezeichen. Aber auch entschiedene „No“s , gleich zwei, mit Ausrufezeichen und unterstrichen nebst Adornos Textpassage „Sein Werk hat den Ton des Ultralinken; wer es aufs allgemein Menschliche nivelliert, verfälscht ihn bereits konformistisch.“ Kracauers kategorisches Urteilen ist eine ethische, natürlich auch subjektive, Wertung. Die Rolle des Kritikers ist eine Ethische . Es ist nicht unproblematisch, den Kritiker zu einer ethischen Instanz zu erheben. Trotzdem kann Parallelität entdeckt werden. Die Ethik fragt unter anderem nach dem Guten und nach dem richtigen Handeln in bestimmten Situationen. Im kleineren Rahmen tut der Kritiker dasselbe mit den Texten, die er betrachtet. Sind die Gedanken „gut“ und vertretbar, die Zitate, in diesem Kontext, passend? Inwiefern kann der Kritiker, in diesem Fall Siegfried Kracauer, mit dem Text übereinstimmen? Ulrich Johannes Schneider schreibt in „Kein Schreiben ohne Lesen. Über Autorenbibliotheken.“ „Marcel Proust hatte schon früher in Sur la lecture notiert, dass das Lesen niemals bloße Aufnahme oder Aneignung sei, eher absichtlich gesuchte Auseinandersetzung. Für Proust steht fest: Man liest, um besser schreiben zu können, man gestattet fremden Geistern über die Lektüre Zutritt zum eigenen Verstand – und weist sie später ab (Proust 1988: 19-21, 29-30)“ Adornos Aufsatz, von Siegfried Kracauer annotiert, ist ein fassbarer Gegenstand dieser durch Lesen hervorgerufene Auseinandersetzung, die, durch den Akt des Lesens, unweigerlich fortsetzt wird, auch in diesem kurzen Text. Durch diese textgewordenen Auseinandersetzungen wird ein anderer Siegfried Kracauer sichtbar, als der in den ausgefeilten, mehrfach überarbeiteten Texten wie Theory of Film zu entdecken ist. Durch Kracauers‘ Reaktionen und Kommentare zu „Aufzeichnungen zu Kafka“ ist es fast, als ob man Siegfried Kracauer beim Lesen über die Schulter schauen könnte.
Das Besondere der Forschung an Nachlässen im Archiv ist, dass, mit etwas Glück, viele von den Büchern, Manuskripten und Objekten eines Autors erhalten sind. Dadurch wird nicht nur nachvollziehbar, wie ein Autor wie Kracauer Bücher und Kritiken schreibt; durch die Bibliothek lässt sich erahnen, welche Werke und Schriften die ethisch beurteilenden Person beeinflusste, was aufgenommen und, möglicherweise, wieder abgestossen wurde. In Kracauers Nachlass lassen sich nicht nur Briefe von und an den Autor finden, sondern auch von Angehörigen, wie etwa den Ehefrauen von Kracauer und Adorno. Siegfried Kracauers Tod lässt die Menschen, die ihm nahe standen über ihn reflektieren. (etwa im Brief Lili Kracauers and Theodor W. Adorno 19. Maerz 1967.) Gerade die Briefe und Eiltelegramme zwischen T.W. Adorno und der gerade verwitweten Lili Kracauer werfen einen besonderen, posthumen Blick auf Kracauers Wesen als Persönlichkeit und als Autor. Die schriftliche Kommunikation zwischen Lili Kracauer und Theodor W. Adorno, vor Kracauers Ableben eher spärlich und via Siegfried Kracauer, nimmt in den Folgejahren zu. Das Thema dieser Briefe ist der gemeinsam verlorene Mensch, sein Nachlass, aber auch Lilis Kritik an Adornos Nachruf an den verstorbenen Freund. Auch Lili Kracauers Brief von Witwe zu Witwe an Gretel Adorno nach dem Tod von Theodor führt zurück zu Kracauers Persönlichkeit. Kracauer und Adorno, durch ihre frühbeginnende (zumindest für Adorno) und langjährige Freundschaft sind in ihrer Persönlichkeit und Werdegang tief ineinander verwurzelt. Nicht Bücher, Ereignisse und Theorien allein haben Siegfried Kracauers Wesen geformt – es waren auch die Freundschaften.
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