Ein Bericht von Jan Tabor
1988 stellt Claire Parnet dem französischen Philosophen Gilles Deleuze im Rahmen eines 7 ½ Stunden langen experimentellen Gesprächs anhand des ABCs je ein Stichwort vor, auf welches dieser sich assoziativ mal mehr, mal weniger ausführlich einlässt. Auffällig wenig Zeit—kaum zwei Minuten—räumt Deleuze dem Buchstaben ,W‘ und dem dazugehörigen Stichwort ,Wittgenstein‘ ein. Deleuze spricht, nachdem er kurz betont, eigentlich gar nicht über Wittgenstein sprechen zu wollen, schließlich doch über die Katastrophe, die Wittgenstein bzw. der Fall Wittgenstein für die Philosophie bedeute: einen massiven Regress, etwas, das als Novum auftrete, dabei jedoch nur Elend im Gewand von Größe darstelle. Ernst und durchaus betrübt wirkt Deleuze bei seinen Ausführungen. Was an diesen Verdikten von Deleuze, dessen mit Félix Guattari gemeinsam verfasster Anti-Ödipus im Sommer 2020 in Pottenstein gelesen wurde, dran sein könnte, davon konnten sich die Teilnehmer:innen in der diesjährigen Lektüreklausur vom 2. bis zum 6. August selbst überzeugen, bei der es um die Philosophischen Untersuchungen von Ludwig Wittgenstein ging.
Wittgensteins zweites Hauptwerk, das seiner Spätphilosophie zugerechnet wird, die sich durch einen charakteristischen Wandel seines philosophischen Stils auszeichnet, erscheint—mit einigen gewichtigen editorischen Eingriffen von Wittgensteins Schüler:innen—1953 postum. Auffallend bereits die Textgestalt: ein, wie Wittgenstein es selbst im Vorwort nennt, „Album“, d.h. eine szenisch anmutende Aneinanderreihung teils prägnanter, teils ausführlich argumentierender und beschreibender Paragraphen, in denen auf sprachanalytischem Wege Gedanken zu weitreichenden Themenkomplexen wie Bedeutung, Verstehen, Satz, Logik, Grundlagen der Mathematik, Bewußtseinszuständen u.v.m. ausgebreitet werden. Ein Album ist es wohl auch deshalb, da Wittgenstein mit vielen anschaulichen Beispielen und sprachlichen Bildern arbeitet, bisweilen auch unter Zuhilfenahme von Zeichnungen und grafischen Modellen. Wittgenstein hat die Absicht, seine Gedanken nicht nur in eine Richtung zu zwingen, sondern die behandelten Themen beweglich zu belassen, so dass sie natürlich zur Entfaltung kommen, also mit Sprüngen, Lücken, Verdichtungen. Die ungewöhnliche Gestalt seiner Untersuchungen verdankt sich insbesondere der Tatsache, dass er von einer gegenstandsfixierenden (metaphysischen) Betrachtungsweise von Sprache auch performativ zu einer gebrauchsorientierten Form der Sprachbetrachtung zu wechseln bestrebt ist. Zu diesem gebrauchsorientierten sprachanalytischen Ansatz gehört für Wittgenstein konsequenterweise auch der Aspekt des Spracherwerbs (oder, wie er es nennt, des Abrichtens) in seiner ganzen interaktiven Dimension, was beispielsweise durch zahlreiche markierte und unmarkierte Dialoge ersichtlich wird, die in den Text eingearbeitet sind. Diese interaktive Dimension führt schließlich dazu, dass auch die Leser:innen selbst durch die immer wieder ans Nachdenken und Mitwirken gemahnende, appelierende Textgestalt zu Mitlernenden und Fragenden werden. Eine Art konzeptuellen Glutkern dieses vielfältigen interaktiven Geschehens bildet die Sprache, die als wandelbares Zeichensystem Regeln und Paradigmen zur Verfügung stellt, anhand derer entsprechende Sprachspiele entdeckt, gelernt, entworfen bzw. angepasst oder verändert werden können. Wittgenstein macht allerdings bei der beschreibenden Exposition dieses komplexen Sprachgeschehens nicht Halt, sondern führt eine Art normativen Zweck für seine Untersuchungen ein: es geht ihm, in einem ersten Schritt, um das Ausweisen bestimmter, als metaphysisch klassifizierbarer, Sprachspiele, um in einem zweiten Schritt dann diejenigen, die sich dieser problematischen Sprachspiele (gleichsam unfreiwillig) bedienen, durch Vergleiche und Hinweise therapeutisch aus der selbstverschuldeten Not zu helfen. Mit anderen Worten: Für Wittgenstein stellt Sprache als eine Art Werkzeug einerseits die Möglichkeit bereit, sich durch ihren alltäglichen Gebrauch in der Welt zu orientieren, andererseits birgt sie, aufgrund ihrer praxisbedingten Unübersichtlichkeit, immer auch die Gefahr, auf verschieden (vom Alltag abweichenden) Wegen und Abwegen den Geist zu verhexen und so Verwirrung und womöglich noch größeres Unheil zu stiften.
Wittgensteins gewissermaßen unendlich anschlussfähige Philosophie der Sprachspiele wurde vom Lesekreis insofern einladend aufgenommen, als die Teilnehmer:innen mit den jeweiligen Perspektiven ihrer Fach- oder Interessensgebiete—sei es der politischen Bildung, dem Lehramt, der Psychotherapie, der angewandten Informatik, der Religionswissenschaft oder der Literaturwissenschaft—interessiert an den Text herantreten konnten, um mögliche neue Fragestellungen zu eruieren oder anderweitig neue Orientierungen zu gewinnen; auch veranlasste die gebrauchsorientierte Dimension des wittgensteinschen Ansatzes immer wieder dazu, aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, die sich auch oder insbesondere auf sprachlichen Terrain manifestieren, vielfältig zu diskutieren (beispielsweise Fragen zur gendergerechten Sprache oder den zeitgenössischen Rassismus-Diskursen). Trotz dieser Anschlussfähigkeit des Textes für allerlei Problemlagen zeichneten sich dennoch auch gewisse Herausforderungen ab: abgesehen von der hohen Komplexität sowie dem spürbaren Voraussetzungsreichtum mancher Passagen, verleitet Wittgensteins Sprache mit ihrer Mischung aus strenger Beschreibung und beharrlichem Klärungsbestreben dazu, manchmal zu souverän und vorschnell reglementierend oder gar säubernd in sprachliches Geschehen einzugreifen; auch fiel auf, dass gerade von männlicher Seite aus das wittgensteinsche Theoriebesteck zuweilen dankend aufgenommen wurde, um nachzuweisen, dass über eigene, ,private‘ Gefühle aufgrund der immer schon ver-regelt-vermittelten Welt eigentlich gar nicht gesprochen werden könne (und man insofern, wenn es um diese ,Dinge‘ gehe, sozusagen aus dem Schneider sei). Ungeachtet dessen, ob Wittgenstein diese Aneignung für rechtmäßig im Sinne seines Theoriedesigns empfunden hätte—als machbar erwiesen sich derartige Züge mit dem Material allemal. Und in diesem Sinne könnte es auch zu verstehen sein, auf welche Bedrohung Deleuze mit seinen scharfen Bemerkungen hinzuweisen bestrebt war: darauf, über diese in so vielerlei Hinsicht beeindruckend umsichtig elaborierte Form von Sprachanalyse, nicht das zu vergessen, was als eine Haltung bezeichnet werden könnte, die der Verführung zur apodiktischen Richtigstellung mit Geduld und Offenheit für all das, was das ,Andere‘ ist und sein kann, zu begegnen weiß.