Der Leerraum als Symptom
von Philip Krömer & Joseph Reinthaler
Kurt Pinthus (geb. 29. April 1886 in Erfurt, gest. 11. Juli 1975 in Marbach am Neckar) ist einer der bedeutendste Begleiter der letzten großen Avantgarde im literarischen Deutschland: des Expressionismus. Kanonisierung wirkt inklusiv wie exklusiv, ist wirklichkeitsstiftend – Pinthus in seiner Kritikerfunktion wirkt damit stark als Landvermesser des literarischen Expressionismus, nicht zuletzt durch die Herausgabe des bedeutenden Bandes Menschheitsdämmerung bei Rowohlt 1921, fürderhin Referenzwerk und Telefonbuch des kanonischen Expressionisten als Anteilhabenden. Man kann Strömungen (und ganz allgemein epistemologische Entitäten) nicht beschreiben, ohne sie gleichsam zu erzeugen – Pinthus umkreist die Schöpfungsakte der literarischen Produktion des Expressionismus und spendet ihnen damit ein Zentrum des kollektiven Verständnisses, das erst durch die Umkreisung als Achse berechenbar wird. Wie wir es hier praktizieren, kann man Pinthus gerne und leicht überschätzen, was jedoch präventiv gegen die viel schlimmere Gefahr der Unterschätzung vorgeht und daher seine therapeutische Richtigkeit hat.
Die Privatbibliothek Pinthus’ ist nach seinem Ableben gänzlich in die Obhut des Deutschen Literaturarchivs Marbach übergegangen. Die sauren Papiere der 20er Jahre ruhen dort unter der Fürsorge der Konservatoren, liegen auf Stahl in kaltem Klima einer unterirdischen Bunkeranlage. Die Bibliothek ist für die eingelagerten Buchsammlungen ein historischer Begriff – Bibliothek beinhaltet die Dimension des Sammelns, des Ordnens, des Verwahrens und der Verfügbarmachung in ihrem landläufigen Verständnis. Je weniger Öffentlichkeit und Zugänglichkeit der Sammlung zu eigen ist, desto mehr sprachliche Neuorientierung ist nötig: dies in Richtung der Privatbibliothek, des Archivs, der Sammlung, des Lagers. Zur Bewusstmachung dieses Umstands ist es unumgänglich, darauf hinzuweisen, dass wir von dem Archiv der Pinthus-Bibliothek sprechen, nicht von der Pinthus-Bibliothek in dem Sinn, welcher die Lebzeit des Sammlers meint – und das ist ein gehöriger Unterschied. Während Bibliotheken ihre Eindeutigkeit von den Schmutzflecken und Eselsohren erhalten, was einen Prägungsprozess der versammelten Medien hin zum Original darstellt, ist jede individuelle Originalisierung zweiter Instanzen der Archivware freilich zu vermeiden. Der Bibliotheksnutzungsprozess gilt als abgeschlossen, was ein Paradox darstellt hinsichtlich der notwendigen wissenschaftlichen Praxis. Um es salopp auszudrücken: Ich möchte gerne anhand tausender Kaffeeflecken erkennen, dass es wohl Pinthus’ Lesepraxis war, sich ein Heißgetränk zu seinen Lesestunden zu bereiten; ich möchte die historische Dimension des Buches in seiner posthumen Nutzung dahingehend ausweiten, erkennbar zu machen, dass auch Wissenschaftler bei der Untersuchung der Pinthus-Bestände gerne Kaffee getrunken haben. Mittlerweile wird man großzüger mit den Zugeständnissen gegenüber dem harten Medium – nahm ein Buchbestand nach dem Tod des Besitzers den Umweg über die temporäre Eingliederung in eine klassische Instituts- oder öffentliche Bibliothek, bevor man den Bestand wieder zusammenklaubte, konservierte und in die Archive Marbachs zur Aufbewahrung verbrachte, entfernte man noch vor etlichen Jahren die Bibliotheksmerkmale wie Stempel, Nummerierung, Rückenschilder etc. Mittlerweile erkennt man auch solche Umstände als dem Objekt und seiner persönlichen Daseinsgeschichte inhärent an.
Als direkte Ableitung dieser Beobachtung können wir feststellen, dass wir bezüglich der konservierten Bibliothek in verschiedenen Dimensionen denken müssen. Wir haben die (Ver-)Sammlung der harten Medien als quantifizierbaren Korpus. Dieser besitzt als Makroobjekt Originalität. Und wir haben das Atom als einzelnes Stück des Korpus, das sich nicht als Bezug zu seiner Nachbarschaft definiert, sondern dessen höchst eigener Zustand als Beschaffenheit der Eingeweide eines medialen Zellkörpers. Damit ist die Bibliothek mehr als der Bestandskatalog und das einzelne Objekt mehr als eine solitäre Zelle. Ein Buch kann Teil der Sammlung sein, vielleicht sogar mehrfach, oder nicht – gleichzeitig kann ein Buch unglaublich zerlesen sein oder beinahe jungfräulich. Die makroperspektivische Wesensart des Ganzen tritt in Wechselwirkung mit der substanziellen Wesensart des Objekts. Das Ganze ist demnach mehr als die Summe seiner Teile und der Teil ist mehr als der Divisor des Ganzen. Eine kaum überraschende und originelle Feststellung hinsichtlich der beinahe kosmischen Gültigkeit dieser bekannten Einsicht – man verzeihe den Allgemeinplatz.
Wohin führen uns nun diese diversen Feststellungen? Stante pede zu dem Untersuchungsgegenstand – ein Zellkörper im Korpus. Eine sehr intensive Beschäftigung mit einem sehr speziellen Buch hat uns dazu verleitet, die Erwartung des Vorhandenseins selbigen Objekts aufrichtig zu empfinden: Die Sprache ist von Carl Einsteins Die schlimme Botschaft von 1921. In gebotener Kürze sei hierauf verwiesen, dass nämliches Werk quasi unmittelbar nach Erscheinen eingezogen und in einem Strafgerichtsprozess verboten wurde. Leidtragende waren neben dem Werk selbst freilich der Autor und dessen Verleger Ernst Rowohlt, bei welchem ein Jahr zuvor auch Pinthus’ Menschheitsdämmerung erschien war, welcher übrigens eine vollseitige Werbeanzeige in Einsteins Dramenband zugedacht wird. Pinthus – scharfer Beobachter seiner Zeit – wohnt dem Prozess bei und veröffentlicht als Reaktion darauf eine schneidende Polemik. Pinthus – als Pate des Expressionismus, als Zeuge der Aburteilung eines der ganz Großen der damaligen Zeit, des Verfassers immerhin des einzigen expressionistischen Romans Bebuquin. Es ist eine ganz und gar besondere Spurensuche in diesem Fall – das Buch wurde derart schleunig aus dem Verkehr gezogen und für Jahrzehnte nicht mehr aufgelegt, dass die Entdeckung und Sichtung eines weiteren vorhandenen Exemplars schon alleine Bedeutung genug hätte. Doch hier haben wir es mit einem hypothetischen Exemplar zu tun, das in der Obhut eines großen Beobachters des gesamten Prozesses und Einsteins selbst war. Noch ein weiterer großer Beobachter wohnte der Schau bei: Heinrich Hubert Houben. Drei Jahre später veröffentlicht er seine große Enzyklopädie der Verbotenen Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart. Der Eintrag zum Fall Einstein ist der ausführlichste des gesamten Werkes und heute Hauptquelle bezüglich der damaligen Vorkommnisse. Während andere Zensurfälle nach der Manier eines Lexikons teilweise nur eine halbe Seite einnehmen, füllt der Fall Einstein über dreißig Buchseiten. Auch der Band Houbens erscheint bei Ernst Rowohlt. Unter anderem Besitzer dieses Bandes – freilich: Kurt Pinthus.
Hier machen wir einen dramaturgischen Schnitt und betrachten kurz die Lebensverhältnisse Pinthus’; Pinthus: Redakteur, Journalist, Kultur- und Kunstkritiker, Dramaturg, Dozent, eingeschränkter belletristischer Schriftsteller. 1937 flieht er vor dem Nazis in die USA. Er kommt kurz zurück und holt seine Bibliothek nach. 1967 remigriert er nach Deutschland – genauer: an das Literaturarchiv Marbach – und verbringt dort seine letzten Jahre.
Wir sparen uns an dieser Stelle, die diversen Umzüge Pinthus’ aufzulisten. Fest steht: Der Buchbestand wurde wenig geschont. Die diversen Ortswechsel beinhalten immerhin auch ganze zwei Mal einen transatlantische Seetransport; damals gewöhnlich in Holzkisten – ohne PVC-Folie und Stahlcontainer – mehrtägig auf offenem Meer unter den schlechten Bedingungen extrem hoher Luftfeuchtigkeit. Das Papier ist kein reines Zellstoffpapier, ist in der Regel stark sauer und holzhaltig und reagiert empfindlich auf Feuchtigkeit. In den USA lehrt und arbeitet er vor allem in New York – einer Küstenstadt, ehemaliges Sumpfgebiet, dass sich durch feuchtes Klima auszeichnet und Sommer, die daher hin und wieder scherzhaft lokal als tropical bezeichnet werden.
Wer die Bestände der ehemaligen Pinthus-Bibliothek in den Marbacher Verliesen sichtet, der erkennt recht schnell den desolaten Zustanden vieler Exemplare. Und oft sind es zudem nicht die besten Ausgaben. Die verlegerische Praxis, ein Werk zeitgleich in unterschiedlicher Bereitstellungsqualität zu produzieren, ist längst vergessen. Tatsächlich haben wir Anfang des 20. Jahrhunderts nicht selten den Fall, dass Werke als Broschur und als Pappband und z. B. als Halbpergament auf holzfreiem Hadernpapier zeitgleich erscheinen. Die zugehörigen krassen sozialen Unterschiede machen dies möglich und unternehmerisch sinnvoll. Es ist auch noch die Zeit wertiger Privatausgaben – in Hunderterstückzahl und mit besonderer Ausstattung. Wenn man sich solchen Bücherregalen wie denen Pinthus’ nähert, muss man sich bewusst machen, wie die verlegerischen Gepflogenheiten jener Zeit waren. Das Kurt-Wolff-Archiv und dessen Privatbibliothek befinden sich in unmittelbarer Reichweite der Pinthus-Sammlung. Das Bild der Regale jedoch ist ein vollkommen anderes. Wolff besitzt – aus verlegerischem Selbstbewusstsein oder bibliophilen Neigungen (?) – eine Unmenge an Halbpergamentausgaben. Leinen und Halbleinen sind heutzutage das höchste der Gefühle, was Buchausstattung anbelangt. Das kaum merklich transparente elfenbeinfarbene sauber geglättete Pergament aus ungegerbten Tierhäuten als Material von Buchrücken wirkt ungemein wertig und ist heutzutage für den aktuellen Buchmarkt unerschwinglich und vollkommen obsolet. Die Kurt-Wolff-Bibliothek ist voll davon – die Pinthus-Bibliothek keineswegs. Gleichzeitig gilt Pinthus aber als leidenschaftliche Sammlerpersönlichkeit mit einer aufrichtigen Vernarrtheit in seine Bücher. Das allerdings zeitigt einen ganz anderen Effekt: Er ist auf unbarmherzige Weise ordentlich. Wir finden Bücher, die ihn nachweislich beschäftigt haben und blättern ganz im Miasma spannender Erwartung durch die Ausgabe seiner Bibliothek und finden – nichts. Keine Anstreichung, keine Markierung, keinen Kommentar – weder am Bund-, Kopf-, Seiten- oder Fußsteg, welche die Scholastiker vor hunderten Jahren so sinnig als Kommentarspalten etablierten, auf Pergamenten, die eigentlich zu teuer waren, um verschwenderisch mit Weißraum zu sein. Dieser Zustand mag unter anderem auch daher kommen, dass Pinthus als Universitätsdozent tätig war. Die Akademische Tradition schreibt (damals mehr als heute) vor, den Studenten die eigenen Bibliothek zugänglich zu machen. Das könnte durchaus Anlass geben, die Bände nicht zu sehr zu personalisieren. Dieses Argument ist auf den ersten Blick griffig, überzeugt aber nur wenig, da Pinthus erst ab 1938 dozierend tätig war (diese Aufgabe beginnt mit seiner Emigration) und sich hinsichtlich der Spärlichkeit der Eintragungen keine verifizierbaren Unterschiede zwischen der Zeit davor und jener seiner Lehrtätigkeit feststellen lassen. Zugeben müssen wir aber, dass der knappe Zeitraum unserer Untersuchungen hinsichtlich dieses Aspekts nur Stichproben zuließ, die selbstverständlich statistisch fragwürdig sind.
Pinthus ist also nicht der dankbarste Kandidat, wenn es um Spuren am Objekt geht. Freilich – es lässt sich doch erkennen, ob ein Buch versehrnutzt wurde oder ob die Seiten noch nicht einmal aufgeschnitten sind. Doch prozessuale Rezeptionsspuren innerhalb des Mediums sind rar. Dennoch ist die Erwartung ungetrübt. Der Blasphemie-Einstein wird sich finden lassen und das offenkundige Interesse Pinthus’ an Autor, Text und Fall wird seine unmittelbaren Spuren hinterlassen haben. Zumindest ein feuchtes Wutschnauben wird die Seiten benetzt haben und stockfleckig werden sie daraufhin geworden sein. So viel steht ungesichtet fest.
Aber nein – hier offenbart sich nach intensiver Suche eine unsichtbare Lücke: Das Buch ist nicht vorhanden. Die internalisierte Selbstbeobachtung in diesem Fall ist äußerst interessant: Die Abwesenheit des gesuchten Mediums in den Regalen des Archivs akzeptieren wir nur schlecht – das Faktum scheint kein Faktum, es erscheint in unserer Wahrnehmung als eindeutiger Systemfehler. Wie brav doch die wesentlichen restlichen Werke Carl Einsteins bei Pinthus versammelt stehen: Negerplastik von 1915, Bebuquin von 1917 etc. Nur die Schlimme Botschaft fehlt in diesem Reigen. Kurz planen wir aus Ermangelung unseres gesuchten Objekts, die Bibliothek Pinthus’ auf andere Gesichtspunkte hin zu untersuchen, zimmern uns Alternativen zurecht. Letztendlich aber gewinnt die Verantwortung vor der Expertise. Wir suchen in den Nachlässen Pinthus’ nach Korrespondenz, vielleicht mit dem angeklagten Einstein- sowie Pinthus-Verleger Ernst Rowohlt – wir suchen nach Notizen. Wir durchsuchen das Rowohltarchiv unter der Verschlagwortung Einstein und Pinthus. Wir suchen. Wir suchen und untersuchen das einzige vorhandenen Exemplar der Schlimmen Botschaft, das ordentlich gelistet ist: eine unglaublich schäbige Broschur, die billigste der möglichen Ausstattungen (zumindest als Pappband kam die Schlimme Botschaft zusätzlich heraus), nicht nur vergilbt, sondern vollständig gebräunt, von Luftsauerstoff und Feuchte förmlich verbrannt, brüchig, bröselig, eine Klebebindung, die praktisch aufgegeben hat. Das Bändchen stammt aus der Bibliothek eines Privatmannes, wie ein Stempel verrät – die meisten Seiten sind nicht einmal aufgeschnitten. Ein jungfräuliches Exemplar also.
Das Rowohltarchiv ist nur zu rund einem Drittel gesichtet und katalogisiert. Alle sinnvoll verwertbaren Dokumente datieren auf Jahre nach 1945. Hierbei ist nichts weiter zu erfahren. In den Dokumenten Pinthus’ findet sich kaum Material, das aus Jahren vor seiner Emigration in die USA stammt. Es erscheint verständlich, dass bei seiner Auswanderung wohl viele Objekte aus seinem persönlichen Besitzt nicht den Weg in die USA gefunden haben. Zum einen wohl aus Gründen der Rationalisierung, auf der anderen Seite vielleicht auch, weil er dem NS-deutschen Zoll misstraute und gerade Privatkorrespondenzen ein gewisses Gefahrenpotenzial boten (so mag man spekulieren und dabei an Thomas Mann denken). Wir wissen es letztendlich nicht und können es auch nicht wissen – gesichert ist nur, dass wir auch an dieser Stelle keine Spuren ausmachen konnten. Und das alleine ist interessant genug.
Eine Bibliothek ist ein Fass im Solera-Verfahren: Es wird niemals ganz geleert, es wird jedoch stets etwas entnommen und stets nachgefüllt. Neue Bücher kommen hinzu – alte und freilich auch neue Bücher werden aussortiert, verkauft, verschenkt, verloren. Es ist nun unglaublich schwer vorstellbar, dass sich Pinthus, der Bibliophile, gerade bei Einsteins Schlimmer Botschaft als Biblioklast erweisen hätte sollen, zumal er davon wusste, dass praktisch die Gesamtauflage des Werks auf staatlichen Beschluss verloren und vernichtet war – unbeabsichtigter Weise wurden damit die rund 200 Exemplare, die diese Vernichtung überlebten, zu seltenen Stücken. Hätte der bibliophile Sammler-Pinthus beim sprichwörtlichen Ausmisten (vielleicht wiederum vor der Emigration bzw. Reise) den Blasphemie-Einstein ausgesondert? Das kann man sich fragen – und genau an dieser Stelle können wir nur spekulieren. Und wo wir spekulieren, beginnen wir freilich zu subsumieren. Pinthus, der das Buch aussondert (unwichtig geworden, sinnlos, überflüssig). Pinthus, der das Buch verliert (versehentlich liegen lässt in einem Café). Pinthus, der das Buch unfreiwillig zerstört (eine ganze Kanne Kaffee zersprungen und das gesamte Buch durchtränkt). Und so weiter und so fort. Für nichts gibt es ein Indiz. Die unglücklichen Zufälle muss man als Möglichkeit aber durchaus ernst nehmen – Hauskatzen, die Bücher zerfetzen, vergossener Kaffee oder Tee, unachtsam liegen gelassen etc. Eine ganz schreckliche Unart im Verfahren historiographischer Betrachtungen ist stets, das Zufällige nicht genug zu würdigen. Diesen wissenschaftlichen Mangel kennen wir zu genüge, er ist vorherrschende Praxis. Wer über Sachverhalte und deren Rekonstruktion nachdenkt, der tut dies stets unter dem Paradigma der Kausalität. Dies ist insofern verständlich, da es sich um das einzig nutzbare Handwerkszeug des Rekonstrukteurs handelt. Gut – verstanden. Aber dies befreit nicht von der Sorgfaltspflicht, auf die vielen kuriosen Umstände des Zufälligen zumindest gleichbedeutend hinzuweisen. Wir können uns und werden uns auch umgehend eine der schlüssigeren Varianten erwählen – behalten aber hierbei auch immer im Hinterkopf, dass der wiederauferstandene Pinthus zur Tür hereinspazieren könnte und schelmisch lachend zugeben könnte, Einsteins Buch sei ihm peinlicher Weise ins Klosett gefallen. Überlegen Sie sich genau die Menge ihrer höchst willkürlichen persönlichen Alltagsungeschicke und plötzlich erscheinen die weniger kausalen Alternativen zunehmend konsistent.
In aller Bescheidenheit also bedenken wir die Umstände und kommen trotz aller Kausalität nicht los vom Zufall, wie wir sehen werden. Der Einstein-Vorfall dürfte viel Aufsehen erregt haben in der literarischen Welt der 20er Jahre. Das kann man als gesichert annehmen – das kann man an etlichen Quellen nachweisen. Nun dürfte diese allgemeine Aufmerksamkeit (ein zeitloser Mechanismus) auch eine gewisse Neugierde an dem betreffenden Werk generiert haben, sicherlich auch in Pinhtus’ Dunst- und Freundeskreis. Über Fall und Werk sich ein Bild zu machen, dürfte jedem interessierten Mitspieler im Literaturbetrieb ein Anliegen gewesen sein. Das Problem dabei ist offensichtlich: Das Werk ist eingezogen und vernichtet. Pinthus ist einer der wenigen Besitzer dieses verbotenen Buches und sein Bekanntenkreis dürfte einschlägig gewesen sein. Unglaublich nahe liegt also, dass Pinthus schon während der Prozesszeit oder unmittelbar danach beinahe im Zugzwang war, dieses Buch zu verleihen – und vermutlich nicht nur an eine Person. Und hier wird es wiederum zufällig, aber nicht im Geringsten unwahrscheinlich: Gerade geliehene Objekte neigen dazu, häufig nicht mehr zurückzukehren. Dies sicherlich besonders in einer Zeit, in welcher man nicht die effizientesten Fernkommunikationsmittel besitzt, in einer Zeit vor Telefon und E-Mail. Zwangsweise verschiebt sich die Rückgabe auf die nächste Begegnung – man kann nur darauf hoffen, dass der Schuldner das Objekt nicht vergisst, man kann nicht fünf Minuten vor dem Aufbruch zum gemeinsamen Barabend eine SMS schicken: Vergiss bitte mein Buch nicht! Kurzum: Sollte Pinthus das Buch an mehrere Personen ausgeliehen haben, vielleicht sogar (aufgrund der unmöglichen anderweitigen Beschaffbarkeit) mit Erlaubnis zum gemäßigten Weiterverleihen, wovon wir fast ausgehen müssen, erscheint es uns als nicht unwahrscheinlich, dass es seinen Weg zurück schlichtweg nicht mehr gefunden hat.
Letztendlich ist es also gelungen, aus dem Zustand der Abwesenheit interessante Fragen abzuleiten, die durchaus ihren eigenen Mehrwert generieren. Vielleicht gerät man zu oft in die Versuchung, über die vielen toten Enden einer Untersuchungspraxis zu schweigen. Letztendlich ist der Leerraum ein sehr intensiver und fruchtbarer Befund. Der notorische menschliche Füllungszwang beflügelt hierbei die Reflexion und merzt damit die ungewollte psychische Disposition der Enttäuschung aus: ein höchst natürlicher Prozess, der aktiv genutzt werden kann. Vielleicht stellt sich auch auf einer gänzlich übergeordneten Ebene eine sehr wichtige Erkenntnis ein: Eine Bibliothek besteht nicht nur aus den Objekten, die sie versammelt – sie besteht auch aus dem negativen Abdruck all jener Objekte, die man vermisst.