Augsburger Gespräche: Literatur – Theater – Engagement


Nicht nur durch die Erfahrungen mit der Pandemie, sondern auch ganz aktuell vor dem Hintergrund des Kriegsgeschehens in der Ukraine scheint der Zusammenhalt der Gesellschaft aufs äußerste bedroht. Für die Bertelsmann Stiftung, die bereits seit 2012 das Projekt „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“ durchführt, besteht Zusammenhalt aus vertrauensvollen und vielfältigen sozialen Beziehungen, einer positiven emotionalen Verbundenheit mit dem Gemeinwesen, dessen Grundordnung als fair akzeptiert wird und aus der Bereitschaft der Menschen, für die Allgemeinheit und für Schwächere aktiv Verantwortung zu übernehmen. Zusammenhalt scheint also wichtig für das gesellschaftliche Miteinander und letztlich zentral für das Gelingen einer liberalen Demokratie. „Auf den ersten Blick“, so der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller, „kann niemand etwas gegen die Forderung nach Zusammenhalt sagen – außer vielleicht den Verdacht, viele Reden über Zusammenhalt seien ein Rennen um die besten Gemeinplätze. Auf den zweiten Blick darf man jedoch fragen, wie der Ruf nach Kohäsion eigentlich mit einem anderen zentralen Begriff im bundesrepublikanischen Demokratiediskurs zusammenpasst: dem der Streitkultur.“ In einer pluralistischen Gesellschaft sind Differenzen und Konflikte essentiell und sogar Ausdruck von politischer Freiheit. „Konflikt ist Freiheit“, so der Soziologe Ralf Dahrendorf, und die „Regierung durch Konflikt“ ist eine Selbstverständlichkeit in einer liberalen Demokratie, in der Differenzen ausgehalten und auf friedliche Weise geregelt werden. Wie aber lässt sich dieser Befund mit der Idee des Zusammenhalts vereinbaren?

Zusammenhalt scheint also kein Wert an sich zu sein. Der Begriff muss offensichtlich in einen größeren Zusammenhang von Werten eingebettet werden, die in einer Demokratie z.B. Grundvorstellungen von Freiheit und Gleichheit bedeuten können. Daher greift auch der Vorwurf, der seit geraumer Zeit Vertreter*innen der Identitätspolitik gemacht wird, nämlich die Spaltung der Gesellschaft zu forcieren, zu kurz. Anstatt sich auf Gemeinsamkeiten zu besinnen und die andere Seite als legitimen Partner im Konflikt anzuerkennen, werde sofort „gecancelt“. Ganz grundsätzlich geht es bei dieser Form der Identitätspolitik aber nicht um persönliche Befindlichkeiten, sondern um die Verwirklichung von Grundrechten – und zwar auf der Basis gesamtgesellschaftlich geteilter Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit. Es geht hier um eine Verteidigung von Menschenrechten, also um elementare Forderungen für alle. Anders sein ohne Angst – diese von Theodor W. Adorno inspirierte Formulierung vermittelt, worauf Identitätspolitik eigentlich abzielt: eben kein ‚identisch machen‘. Gemeinsinn entstünde dann gerade aus der Verpflichtung, Rechte immer wieder neu auszuhandeln, sie zu erweitern, um eine Gesellschaft des Zusammenhalts überhaupt erst ermöglichen zu können. Diese Bereitschaft zur Aushandlung könnte gerade das Verbindende sein.

Zusammenhalt bedeutet also Konfliktfähigkeit und das konstruktive Ringen um die beste gemeinsame Zukunft. Er kann weder ‚von oben‘ verordnet, noch von Institutionen vorgeschrieben werden. Doch wer definiert also den Zusammenhalt und auf welcher Grundlage? Und muss die Vielfalt der Meinungen tatsächlich über alles gestellt werden? Müssen nicht auch „unverhandelbare Grenzen markiert werden, damit nicht diejenigen allein gelassen werden, die an die Demokratie glauben und die ihren Schutz brauchen?“ (Carolin Emcke) Gerade vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland stellt sich diese Frage einmal mehr.

Es gibt also scheinbar keine neutrale Vorstellung von Zusammenhalt. „Vielleicht ist das der eigentliche Sinn des Begriffs – uns zum Nachdenken über die Alternativen zwischen verschiedenen normativen Konzeptionen des Zusammenhalts zu motivieren.“ (Rainer Forst).

Wo aber sind diese Orte der Aushandlung zu finden und welche Rolle spielen hier vor allem das Theater und die Literatur? Stellen sie Räume der Streitkultur zur Verfügung oder liefern sie qua ihrer Imaginationsfähigkeit Visionen des Zusammenhalts? Und wie sehen diese Visionen aus, werden sie gezeigt, offenbar gemacht oder stellen sie sich erst im Zusammenspiel mit den Leserinnen und Zuschauerinnen her? Welche Rolle spielt dabei die Literarizität, die Theatralität? Geht es also allein um inhaltliche Aspekte oder wird gar die Form zur Trägersubstanz einer wie auch immer gearteten Haltung? Diesen und anderen Fragen ist in offener und geschlossener Runde im Rahmen der Augsburger Gespräche vom 20. bis 22. Juli 2022 nachzugehen.